Schach in Poll

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Teil 2

Hans-Werner Kettenbach
Abenteuerreisen im Geviert (Teil 2)

Die Faszination, die das Schachspiel auszuüben vermag, bedeutet zugleich die Gefahr, in die es seine Liebhaber bringt: es kann zur Sucht werden, zum Schachfieber, zur Schachvergiftung. Zur Meisterschaft wird heutzutage, da jede nur mögliche Phase des Spiels bis ins Detail analysiert und beschrieben ist, nur noch gelangen, wer das Schach wie einen Leistungsport betreibt, von Kindsbeinen an und mit gestrenger Trainingsdisziplin. Und manche werden auf diesem Weg wunderlich.
Natürlich liegt nichts mir ferner, als die Schachspieler schlechthin, zum Beispiel die Freunde in meinem Klub und anderswo, oder die 94.000, in Vereinen organisierten Mitglieder des Deutschen Schachbundes, die Zehntausende seiner Jugendlichen, dazu die Hunderttausende von Hobbyspielern, auch Kaffeehausspielern, sie alle zu verdächtigen, sie litten an der Schachvergiftung oder schlicht an einem Tick. Es würde mir eh niemand glauben angesichts der Berge von Veröffentlichungen, in denen die geistigen, sogar die sittlichen Vorzüge des Schachs gerühmt worden sind: Sein erzieherischer Wert, die Schulung des logischen Denkens und der Konzentrationsfähigkeit, die Einübung von Disziplin und Fairness.
Dergleichen Verdächtigung wäre auch falsch, weil sie eine wesentliche Komponente des Schachspiels ignorierte: Es macht Vergnügen. Vielleicht rührt das vor allem daher, daß jede Partie, wie abgenutzt die jeweilige Eröffnung auch sein mag, einem Abenteuer gleichkommt, einer Reise, die sich nur innerhalb eines Gevierts von 64 Feldern bewegen darf, deren Route und Ausgang aber völlig ungewiß sind, weil die Vielfalt der Züge, die den Spielern unterwegs zur Verfügung stehen, faktisch unbegrenzt ist. Wer Schach spielt, rührt an die Unendlichkeit.
Zu den faszinierenden Merkwürdigkeiten dieses Spiels gehört es auch, daß im Lauf des anderthalben Jahrtausends seiner Geschichte zwar nicht wenige große Gei-ster sich dafür begeistert haben, daß eine besondere Begabung für das Schach aber auch mit einem völligen Mangel an Bildung einhergehen kann, wie bei Zweigs Weltmeister Mirko Czentovic, einem stumpfsinnigen Burschen aus einem südslawischen Dorf. Steckbriefe sollen hier nicht ausgegeben werden, aber wer die Stars der heutigen Schachszene ein wenig genauer betrachtet, der wird bei etlichen von ihnen eine gewisse Einseitigkeit der Interessen nicht übersehen können. Das reicht hier und da über Schach und schnelle Autos kaum hinaus.
Auf der anderen Seite bemühten sich Denker wie Voltaire oder Jean-Jacques Rousseau angestrengt, wenn auch erfolglos, ihre Spielstärke im Schach zu verbessern. Sie besuchten häufig das Pariser Café de la Régence, wo François André Philidor und andere Meister ihrer Zeit verkehrten, setzten sich mit ihnen ans Brett und verloren zu ihrer bitteren Enttäuschung. Und nicht zuletzt ein Mann namens Napoleon Bonaparte ging im Régence gelegentlich, aber ebenso vergeblich der Hoffnung nach, durch Heldentaten auch im Schach berühmt zu werden.
Wollte man einen Skeptiker davon überzeugen, daß das Schachspiel weitaus mehr ist als ein Spiel, dann ließe sich am Ende auf die riesigen Bibliotheken verweisen, die es hervorgebracht hat. In ihnen finden sich nicht nur die Hunderttausende von Büchern zur Theorie der Eröffnungen, der Mittelspiele und der Endspiele, sondern auch Werke, die das Schach in jeden nur denkbaren Zusammenhang der Geistesgeschichte rücken, so zum Beispiel „Das Schachspiel in der europäischen Malerei und Graphik“ (Monika Faber, Wiesbaden 1988) oder die „Literatur des Schachspiels“ (Anton Schmid, Wien 1847); „Die Psychologie des Schachspielers“ (Reuben Fine, Frankfurt/M. 1982) oder – in Deutschland ganz unvermeidlich – eine „Schachphilosophie“ (Josef Seifert, Darmstadt 1989).
Zum Glück kann man alle diese Werke studieren – oder es lassen. Man braucht sie nicht. Es genügt, die Regeln des Spiels zu kennen, ein Brett mit 64 Feldern und dazu die 32 Figuren zur Hand zu haben und einen Gegner zu finden, mit dem gemeinsam man sich auf das Abenteuer einlassen kann, das Abenteuer, an der Unendlichkeit zu kratzen.
Geschrieben für das „Handelsblatt“, Düsseldorf
Veröffentlicht am 28./29. November 2003


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